Suchen und Finden
IMAGO 10 Ausgabe 1/ 2020 - Begaben
Editorial
Monika Miller / Olga Bonath
Begaben
In einer anthropologisch ausgerichteten Kunstpädagogik steht das bildnerische Wahrnehmungs-, Vorstellungs-, Darstellungs- und Mitteilungsvermögen des jungen Menschen in seiner Entwicklung und Bildungsfähigkeit im Mittelpunkt. Dies setzt einen begabungsgerechten Kunstunterricht bzw. eine Didaktik voraus, der die ‚Begabtheit‘ aller Heranwachsender fördert. Dieses Heft nimmt jedoch die Begabung jener jungen Menschen den Fokus, die die Bereitschaft mitbringen, bildnerisch-gestalterische Aufgaben auf einem qualitativ höheren Niveau und quantitativ anderem Umfang lösen zu wollen.
Entscheidend für diesen relational-anthropologischen Begabungsansatz ist ein pädagogisches Verständnis von Begabung und Begabungsentfaltung, das in der Überzeugung gründet, dass Begabung nicht so sehr als Eigenschaft, sondern eher als Prozess der Begabungsentfaltung zu beschreiben ist. Dabei geht es weniger um Fragen nach dem Begriff oder der Entstehung der Begabung, sondern vielmehr um deren Förderung. Von diesem Grundverständnis her erhalten bildnerische Lehr- und Lernprozesse eine zentrale Bedeutung: Es wird hier daher explizit danach gefragt, wie der Kunstunterricht beschaffen sein muss, um Schu¨ler*innen zu „begaben“. Wird die Begabung als ‚produktive Lernfähigkeit‘ im Sinne aktiver Handlungsmöglichkeiten interpretiert und die Entwicklung von Begabungen als ein pädagogischer Prozess des ‚Begabens‘ gedeutet, hat das zu Folge, dass in gleicher Weise der Anteil des lernenden Subjekts am pädagogischen Prozess betont wird wie der Anteil der Menschen, die es (be)lehren (Weigand 2011). In solchen Lehr-Lernprozessen kommt es zu dynamischen Wechselwirkungen, bei denen sich Begabung, Motivation sowie die Erfahrung eigener Leistung und die damit verbundene Anerkennung durch andere sich gegenseitig verstärken. Junge Menschen können nur aktiv, im Dialog mit anderen und in Auseinandersetzung mit ihrer Umgebung und ihrem Umfeld ihre Potentiale entfalten und gestalten. Begeisterung, die leidenschaftliche Hinwendung und Beschäftigung mit einer Sache, einem Material, einer Handlung, einem Thema oder Inhalt usw. ist ein zentraler Faktor bei der Realisierung von Begabung. Ist jemand mit Begeisterung bei einer Sache, werden Zeit und Ort schnell vergessen und ein erfüllender Zustand, der so genannte „Flow“ tritt ein (Csikszentmihalyi 2008; 2017).
Bildungspolitisch ergibt sich daraus die Notwendigkeit, den Heranwachsenden durch entsprechende schulische und außerschulische kunstpädagogische Angebote zu ermöglichen, ihre bildnerischen Potentiale zu verwirklichen. Die Fähigkeit zur Begeisterung wird als ein wesentlicher Motor dieser Potentialentwicklung betrachtet. Nicht nur für den Begabtenunterricht steht zentral das Motto „begeistert sein und begeistern“, sondern es handelt sich dabei um eine allgemeine pädagogische Haltung. Es führt uns deutlich vor Augen, dass ‚Begaben‘ in der Verantwortung der Lehrkraft liegt.
Welche zentrale Bedeutung dem Begriff ‚Begeisterung‘ inzwischen auch in der allgemeinen Begabungsdiskussion beigemessen wird, geht deutlich aus dem Titel des von ÖZBF (Österreichisches Zentrum für Begabtenförderung und Begabungsforschung) organisierten Kongresses im Herbst 2019 hervor: Dieser lautet „Begabung – Begeisterung – Bildungserfolg“. ‚Begeistert lernen‘ ist eines der Themen des Kongresses.
Alle Preise verstehen sich inklusive der gesetzlichen MwSt.